Erdbeben in Kurdistan: Die Zahl der Erdbebenopfer steigt stündlich - Erdogan lässt Erdbebengebiet bombardieren
Bei den Erdbeben in der Türkei und Syrien sind vorläufigen Angaben zufolge über 8000 Menschen ums Leben gekommen. Die Hilfe in Nordkurdistan bleibt vielerorts weiterhin aus. Die Menschen haben in Eiseskälte die erste Nacht verbracht. In vielen Orten wie in etlichen Dörfern und Kleinstädten in der Umgebung von Elbistan, Meletî (tr. Malatya) und Amed (tr. Diyarbakır) ist bisher keine oder nur wenig Hilfe eingetroffen. Die Telefon- und Stromnetze sind zusammengebrochen. Währenddessen herrschen eisige Temperaturen und größere Unwetter stehen bevor. Absolut empörend ist, dass die türkische Armee heute früh um 0.40 Uhr die gestern vom Erdbeben betroffene Stadt Tel Rifat in Nordsyrien und ihre Umgebung mit Artillerie beschossen hat! Eiskalt setzt Erdogan den Terror gegen die kurdische Bevölkerung fort. Das sind Kriegsverbrechen!
Kurdische Gebiete besonders betroffen
Das Erdbeben betraf vor allem Gebiete Nord- und Westkurdistans. Ausgehend vom Zentrum Kahramanmaraş ist auch Gaziantep sehr betroffen, Hatay, dann das von der Türkei okkupierte Gebiet Efrin, das zu Rojava gehört, und in Syrien Aleppo. Aus Amed (Diyarbakir) berichtet ein Freund, der seit Montag früh in unermüdlichem Einsatz in einer Rettungmannschaft arbeitet: „Es ist horrend, und das bei 'nur' 150 Toten und etwa 1000 Verletzten in Diyarbakir. Ein zehnstöckiges Gebäude ist einfach zusammengefallen. Aber andererseits ist es ein Glück, dass hier nicht noch mehr hochstöckige Häuser sind, in anderen Städten wie Urfa, Hatay oder Pazarcik sind wahnsinnig viele Hochhäuser zusammengefallen. Ich weiß es nicht, aber es können noch Tausende von Toten auf uns zukommen“. Auf die Frage, welche Rolle die Regierung spielt: „Wie immer, sie macht nichts, es fehlt überall an Werkzeug und Maschinen“. Ein weiterer Arbeiter aus Amed: "Es gibt viel zu wenig Hubschrauber, Hauptsache die Reichen können mit ihren Privatjets fliegen."
ICOR-Geburtsklinik unversehrt
In einem Telefonat aus Kobane ist zu erfahren, dass es in Kobane selber nicht so viele Todesopfer und Verletzte gibt. Aber es sind auch Gebäude eingestürzt. Die Menschen bleiben auf der Straße und übernachten in Zelten. Das ist eiskalt, aber weniger gefährlich als in den Häusern. „Medizin für Rojava“ berichtet, dass die ICOR-Geburtsklinik unversehrt sei. Sie habe Versorgungsprobleme, nehme aber heute ihre Arbeit wieder auf. Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert steht mit Ärzten in Nordsyrien in Verbindung. Die medizinische Situation im Erdbebengebiet ist furchtbar. In Idlib und Umgebung fehle es an schweren Maschinen zur Rettung von Verschütteten ebenso wie an Hilfsmaterial, sagte Trabert. In Syrien selber schätzt eine Freundin die Lage noch desaströser als in der Türkei ein, zu wenig Rettungskräfte, zu wenig Krankenhäuser.
KCDK-E und TJK-E rufen dreitägige Trauer aus
Die kurdischen Europaverbände KCDK-E und TJK-E rufen eine dreitägige Trauer aus und appellieren an die Kurden und an die Bevölkerung in Europa, die Menschen in Kurdistan zu unterstützen. In der Erklärung heißt es: „Das AKP/MHP-Regime, das nichts anderes tut, als Kurdistan mit Krieg und Massakern zu überziehen, schaut bei der aktuellen Katastrophe einfach nur zu. Die bisher durchgeführten Rettungsarbeiten und Hilfsleistungen sind absolut unzureichend. Die türkische Regierung versucht durchzusetzen, dass Hilfe nur von ihrer Katastrophenschutzorganisation AFAD geleistet wird. Das verhindert, dass echte Hilfe die Erdbebenopfer erreicht. Gleichzeitig wird so garantiert, dass den Anhängern der AKP Vorrang eingeräumt wird. Das Regime will sogar aus dieser Katastrophe Profit schlagen. Das geht so weit, dass es selbst der türkischen Ärztekammer erschwert wird, medizinische Ausrüstung in die Region zu schicken. ... Deshalb rufen wir unser im Ausland lebendes Volk, unsere Gesellschaftszentren, unsere Institutionen, unser Volk, revolutionäre und demokratische Menschen, Intellektuelle und alle, die für die Menschlichkeit eintreten, zur Hilfe gegen diese Katastrophe auf."
KCDK-E und TJK-E rufen dazu auf, dass die Hilfe über Heyva Sor A Kurdistanê erfolgt. Mit dieser Organisation, dem kurdischen roten Halbmond, organisiert auch die Solidaritäts- und Hilfsorganisation Solidarität Internationale e.V. die Zusammenarbeit in der Spendenkampagne für die vom Erdbeben Betroffenen. Hier der Spendenaufruf von Solidarität International vom 6. Februar 2023.
Kamen die Erdbeben überraschend?
Es ist bekannt, dass die betroffene Region ein stark gefährdetes Gebiet ist. Das letzte Erdbeben mit vergleichbarer Stärke im Jahr 1144 zerstörte die Stadt Kahramanmaraş, alle damals 40 000 Einwohner wurden getötet. Die gestrigen Beben betrafen die sogenannte Ostanatolische Verwerfungszone zwischen der Anatolischen und der Arabischen Erdplatte. Es war dort über viele Jahrhunderte seismisch ruhig. Währenddessen hat sich an der Plattengrenze immer mehr Spannung aufgebaut, ein großes Erdbeben war nach Ansicht von Experten überfällig gewesen. Von der Stärke waren die Fachleute, u.a. Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam, überrascht. "7,8 ist fast das stärkste, was an so einer kontinentalen Plattenrandstörung auftreten kann", sagte Bohnhoff. "7,8 bedeutet, dass sich auf einer Länge von 200 oder mehr Kilometern von der Oberfläche bis in etwa 20 Kilometer Tiefe die Erdplatten quasi innerhalb von Sekunden - oder hier bis zu zwei Minuten lang - gegeneinander verschieben. Und zwar um einige Meter." Entsprechend viel Energie werde freigesetzt. An der Stelle des Hauptbebens ist die Spannung erstmal beseitigt und die Wahrscheinlichkeit von Nachbeben sinkt. Aber insbesondere in Richtung Nordosten können infolge von Spannungsumlagerungen an der Plattengrenze nach dem gestrigen Beben weitere folgen.
Warnungen wurden in den Wind geschlagen, die Erdbebensteuer zweckentfremdet
Im Vorfeld gab es ernsthafte Warnungen. Evrensel berichtet, dass der Geologe Professor Doktor Nagi Görür schon drei Tage vor dem Ausbruch vor dem Erdbeben gewarnt hatte. In einer Fernsehsendung sagte er, dass die Regierung alles ignoriert hat. 2020 hatte er nach dem Erdbeben in Elazig vorhergesagt, dass das nächste Erdbeben in Kahramanmaraş sein wird. Er hatte die südanatolische Bruchlinie analysiert und daraus abgeleitet, wo die nächsten Beben sein müssen und entsprechende Projekte vorgeschlagen. Es sollten Sammelpunkte eingerichtet werden für den Fall von Beben, diese wurden aber nicht umgesetzt. Er hatte alle lokalen und zentralen staatlichen Stellen darüber informiert. Alles wurde ignoriert.
Die ersten Beben geschahen in der Nacht. Während die Leute schliefen, wurden sie in ihren Häusern erschlagen. Kurdische Freunde in Deutschland erklären, dass ganz besonders viele Erdbebenopfer arme Menschen sind. "Arme Menschen, die in Wohnungen oder Häusern mit schlechter Qualität leben, das ist ja in großen Teilen Kurdistans der Fall“. Der einzig sichere Schutz wäre eine erdbebensichere Bauweise. Diese ist möglich und wird z.B. in Japan zumindest teilweise praktiziert. In der Türkei wird immer mehr die Frage nach dem Verbleib der Erdbebensteuer gestellt, die offiziell „private Transportsteuer“ (Türkisch: Özel İletişim Vergisi) genannt wird. Seit dem verheerenden Erdbeben von 1999 hatte die Türkei so 88 Mrd. Türkische Lira (TL) eingesammelt, was nach heutigem Währungskurs 4,67 Milliarden US-Dollar sind. Mit den Geldern aus der Erdbebensteuer sollten unter anderem erdbebensichere Gebäude entstehen. Jetzt ist ein Video des ehemaligen Finanzministers Mehmet Simsek von 2011 aufgetaucht. Darin erklärt er, wohin das Geld, das für Situationen wie das jetzige Erdbeben vorgesehen war, in der Türkei wirklich geflossen ist. „Das Geld wird für Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft und für die Bildung ausgegeben“. Auch seien die Einnahmen aus der Erdbebensteuer für das Rückzahlen der Schulden beim Internationalen Währungsfonds verwendet worden. „Die Regierung hat nicht das Wohnproblem gelöst, sondern die Baubranche zu einer Einnahmequelle gemacht“, schreibt die CHP in Gaziantep auf Twitter.
Riesige Hilfsbereitschaft
Aus Soma sind zwölf Bergarbeiter aufgebrochen nach Kahramanmaras, um bei den Aufräumarbeiten mitzuhelfen. Das ist nur ein Schlaglicht auf den unermüdlichen und selbstlosen Einsatz von Rettungsmannschaften und unverletzten Menschen in der Region. Auch griechische, italienische und Schweizer Retter sind im Einsatz. Während die deutsche Bundesregierung gerade mal eine Million Euro für die Erdbebenopfer aufbringt, ist die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung in Deutschland riesig. Viele haben Angehörige, Bekannte und Verwandte in der Erdbebenregion.
https://www.rf-news.de/2023/kw06/230206_erdbebenhilfe-tuerkei-syrien.pdf